Stundenuhr des Leidens


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Stunde von 9 bis 10 Uhr

Jesus mit Dornen gekrönt, verspottet und verhöhnt.
Ecce homo! Von Pilatus zum Tode verurteilt.


Jesus, meine unendliche Liebe! Je mehr ich dich anschaue, desto mehr begreife ich, was du leidest. Bereits bist du eine einzige Wunde, kein heiler Fleck ist an dir. Die Henker sind wütend, dass du sie noch in solchen Qualen mit Liebe betrachtest. Deine liebevollen, gütigen, bezaubernden Blicke sind ebenso viele Stimmen, die noch mehr Leid und neue Pein begehren. Die Schergen stellen dich, nicht nur weil sie unmenschlich sind, sondern auch unbewusst von deiner Liebe genötigt, auf die Beine, um dir neue Leiden und noch bitterere Schmerzen zuzufügen. Du jedoch, außerstande, dich auf den Fußen zu halten, fällst abermals in dein Blut. Deine Peiniger, wütend darüber, richten dich mit Fußtritten und Stößen auf und schleppen dich an den Ort, wo du mit Dornen gekrönt werden sollst.

Jesus mit Dornen gekrönt

Jesus, wenn du mich nicht aufrecht hältst mit deinem Blick der Liebe, dann kann ich dich nicht länger leiden sehen. Der Schauder geht mir durch Mark und Bein, das Herz pocht stürmisch, ich fühle mich dem Tode nahe. Jesus, Jesus, steh mir bei! 

Mir scheint, als sprächest du:

„Mein Kind, Mut! Lass dir nichts entgehen von dem, was ich gelitten habe, und achte auf meine Lehren. Ich muss den ganzen Menschen erneuern. Die Schuld hat ihn gekrönt mit Schmach und Schande, sodass er vor meiner Majestät nicht erscheinen kann; die Schuld hat ihn entehrt und ihn jegliches Recht auf Ehre und Herrlichkeit einbüßen lassen. Darum will ich mit Dornen gekrönt sein, um der Stirne des Menschen ihre Krone zurückzugeben, ihn in alle seine Rechte wieder einzusetzen und ihm seine Ehre und Herrlichkeit zu verleihen. Meine Dornen werden vor meinem Vater Stimmen der Sühne und der Entlastung sein für so viele Gedankensünden, vor allem solche des Hochmuts; werden Strahlen des Lichts sein für jeden geschaffenen Geist und Fürbittgebete, dass die Kinder der Menschen mich nicht mehr beleidigen. Darum vereinige dich mit mir, bitte und sühne mit mir.“

Mein Jesus, deine grausamen Feinde lassen dich niedersitzen, hängen dir einen alten Purpurmantel um, fertigen eine Dornenkrone an und setzen sie dir mit teuflischer Wut auf dein anbetungswürdiges Haupt. Dann nehmen sie Stöcke, schlagen zu und lassen die Dornen in deine Stirn eindringen, teilweise sogar in die Augen, in die Ohren, ins Gehirn und in den Nacken.

Meine Liebe, welche Qual, welch unsagbare Leiden! Wie vielfachem Tod grausamster Art unterziehst du dich! Schon rinnt dein Blut über dein Angesicht, sodass man fast nur noch Blut sieht. Trotzdem sieht man unter diesen Dornen und diesem Blut dein heiligstes Antlitz strahlen von Sanftmut, Liebe und Frieden. Um die Komödie zum Abschluss zu bringen, geben sie dir als Zepter ein Rohr in die Hand, und jetzt können ihre Verspottungen beginnen. Sie begrüßen dich als König der Juden, schlagen auf die Krone und geben dir Backenstreiche.

Du schweigst und sühnst so den Ehrgeiz jener, die nach Herrschaft und Würden streben, leistest Genugtuung für jene, die in hohem Rang und hoher Stellung sich unwürdig betragen und so den Völkern und den ihnen anvertrauten Seelen zum Verderben werden.

Mit dem Rohr, das du in der Hand hältst, leistest du Ersatz für so viele Werke, die zwar gut sind, aber ohne inneren Geist, auch für solche, die in böser Absicht geschehen. Durch die Ertragung des Spotts und Hohns sühnst du für jene Menschen, welche die heiligsten Dinge entweihen, verächtlich machen und ins Lächerliche ziehen.

Jesus, mein König! Deine Feinde fahren fort in ihren Beschimpfungen, das Blut strömt in solcher Fülle aus deinem heiligsten Haupte über dein Angesicht, dass ich kaum deine süße Stimme zu vernehmen vermag. O ich möchte mein Haupt unter diese Dornen legen, um ihre Stiche zu empfinden.

Jesus, wie bist du schön inmitten dieser tausendfachen Qualen! Es scheint, als sprächst du zu mir: „Mein Kind, diese Dornen sollen sagen, dass ich als König der Herzen eingesetzt sein will, denn mir gebührt jede Herrschaft. Nimm diese meine Dornen und verwunde damit dein Herz. Lass aus ihm ausströmen, was mir nicht gehört. Einen Dorn lass in deinem Herzen zurück als Siegel, dass ich dein König bin, um zu verhindern, dass ein anderer in dir Einkehr halte. Mache deinen Rundgang bei allen Herzen. Indem du sie mit meinen Dornen verwundest, lass den flüchtigen Rauch des Hochmuts und allen Unrat, den sie enthalten, aus ihnen entweichen, dass jedes mich als König einsetze."

Meine Liebe, mein Herz presst sich zusammen, wenn ich dich verlassen muss. So lass deine Dornen in meine Ohren eindringen, damit sie nur deine Stimme allein vernehmen, in meine Augen, um allein nach dir zu schauen, in meinen Mund, dass meine Zunge stumm bleibe für alles, was dich beleidigen könnte, und nur die Freiheit habe, dich in allen Menschen zu loben und zu preisen. Jesus, mein König! Umgib mich mit deinen Dornen, dass sie mich beschützen, verteidigen und mich stets auf dich achten lassen.

Nun will ich dir das Blut abtrocknen und dich liebkosen, denn ich sehe, dass deine Feinde dich wieder zu Pilatus führen, der dich zum Tode verurteilen wird. Mein dornengekrönter Heiland, steh mir bei, dass ich deinen Leidensweg fortsetzen kann. 

 

Jesus wieder vor Pilatus

Mein armes Herz, verwundet von Liebe und durchbohrt von deinen Leiden, kann ohne dich nicht leben. Darum suche und finde ich dich abermals vor Pilatus.

Welch erschütterndes Schauspiel! Die Himmel erschaudern, die Hölle erzittert vor Furcht und Wut zugleich. Leben meines Herzens, mein Auge kann dich nicht sehen, ohne dass ich dem Tode nahe komme. Aber deine hinreißende Liebe nötigt mich trotzdem, dich anzuschauen, um deine Leiden in vollem Maß begreifen zu können. Und ich betrachte dich unter Seufzern und Tränen. Jesus, du bist noch deiner Kleider beraubt. Anstatt mit einem Gewand, sehe ich dich mit Blut bekleidet. Dein Fleisch hängt dir in Stücken vom Leib, deine Gebeine sind bloßgelegt, dein heiligstes Antlitz ist nicht mehr zu erkennen. Die Dornen sind in deinem Haupt bis in die Augen eingedrungen. Ich sehe nur Blut, das zur Erde rinnt und ein blutiges Bächlein hinter deinen Schritten zurücklässt.

Man erkennt dich nicht mehr, so bist du zugerichtet, auf der tiefsten Stufe der Demütigung und am höchsten Grad der Leiden angekommen. Ach, ich kann deinen Anblick kaum mehr ertragen! O ich möchte dich der Gewalt des Pilatus entreißen, dich in meinem Herzen verschließen, um dir Ruhe zu gönnen. Wie gern möchte ich deine Wunden mit deiner Liebe heilen, mit deinem Blut die ganze Welt überschwemmen, um alle Seelen hineinzutauchen und als Siegesbeute deiner Leiden zu dir zu führen.

Geduldigster Jesus, kaum vermagst du durch die Dornen mich anzuschauen, um zu mir zu sprechen:

„Mein Kind, komm in diese meine gefesselten Arme, neige dein Haupt an meine Brust, und du wirst die heftigsten und bittersten Schmerzen empfinden. Das, was du an meiner Menschheit von außen siehst, ist nur das Überschäumen meiner inneren Qualen. Achte auf die Schläge meines Herzens und du wirst erkennen, dass ich sühne für die Ungerechtigkeiten vieler Befehlshaber, für die Unterdrückung der Armen und der Unschuldigen, die den Schuldigen nachgesetzt werden. Ich sühne für den Hochmut jener, die, um ihre Würden, ihre Stellung, ihre Reichtümer behaupten zu können, sich nichts daraus machen, jedes Gesetz mit Füßen zu treten und dem Nächsten Unrecht zuzufügen, weil sie ihr Auge dem Licht der Wahrheit verschließen.

Mit diesen meinen Dornen möchte ich ihren stolzen Herrschaftsdünkel zerstückeln und durch die Vertiefungen, die sie in meinem Haupte bilden, mir den Weg zu ihrem Geist bahnen, um in ihm alle Dinge im Geist der Wahrheit in Ordnung zu bringen. Stehe ich so tief gedemütigt vor diesem ungerechten Richter, so will ich dadurch alle begreifen lassen, dass die Tugend allein jene Würde verleiht, die den Menschen zum König über sich selbst macht. Ich will allen Befehlshabern die Lehre geben, dass nur die Tugend, verbunden mit einem geraden Sinn, allein würdig und fähig macht, andere zu leiten und zu regieren. Alle Würden ohne Tugend sind hingegen gefährliche und beweinenswerte Gaben. Meine Tochter, lass dir meine Sühneakte zu Herzen gehen und fahre fort, auf meine Leiden zu achten.“

Indem Pilatus dich so übel zugerichtet sieht, erschaudert er und ruft ergriffen aus:

„Ist es möglich, dass sich im menschlichen Herzen eine solche Grausamkeit findet? Wahrhaftig, als ich den Angeklagten zur Geißelung verurteilte, war es nicht mein Wille, dass er so behandelt werde." Ganz benommen und außerstande, dein Schmerz erfülltes Angesicht länger anzuschauen, wendet er den Blick von dir ab. Um mehr überzeugende Gründe finden zu können, dich aus den Händen deiner Feinde zu befreien, stellt er ein neues Verhör mit dir an.

„Sag mir, was hast du getan? Dein Volk hat dich in meine Hand gegeben. Bist du wirklich ein König? Und welches ist dein Reich?"

Auf diese dringenden Fragen des Pilatus antwortest du nicht, mein Jesus. Ganz in dich gekehrt, denkst du nur daran, meine arme Seele um den Preis so vieler Leiden zu retten.

Da Pilatus keine Antwort erhält, fügt er hinzu:

„Weißt du nicht, dass es in meiner Macht steht, dich freizugeben oder dich zu verurteilen?"

Und du, meine Liebe, der du im Geiste des Pilatus das Licht der Wahrheit aufleuchten lassen willst, gibst zur Antwort:

„Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre. Jedoch haben die, welche mich in deine Hände geben, eine größere Sünde."

 

Ecce homo!

Ergriffen von der Sanftmut deiner Stimme, entschließt sich Pilatus in seiner Erregung, dich von der Terrasse des Gerichtshauses herab deinen Feinden zu zeigen. Er hofft, in ihren Herzen werde sich das Mitleid regen, wenn sie dich so übel zugerichtet sähen. Auf diese Weise will er dich befreien.

Leidvoller Jesus! Mein Herz versagt, wenn ich dich anschaue. Mit Mühe schreitest du dahin, Pilatus zu folgen, gebeugt unter der Schauder erregenden Dornenkrone. Blut bezeichnet deine Schritte. Beim Heraustreten siehst du eine in Aufruhr befindliche Volksmenge, die begierig auf deine Verurteilung wartet. Pilatus gebietet Stillschweigen, um die Aufmerksamkeit aller auf sich zu lenken und von allen verstanden zu werden. Schaudernd ergreift er die beiden Zipfel deines Purpurmantels, der deine Brust und deine Schultern bedeckt, zieht sie auseinander, dass alle sehen, wie du zugerichtet bist, und spricht mit lauter Stimme:

„Ecce homo! Seht, welch ein Mensch! Seht, er hat keine Gestalt eines Menschen mehr. Betrachtet seine Wunden; er ist nicht mehr zu erkennen. Hat er Böses getan, dann hat er genug, ja übergenug gelitten. Ich habe schon bereut, dass ich ihn habe geißeln lassen. Also lassen wir ihn frei."

Jesus, meine Liebe, gestatte, dass ich dich halte. Unter der Wucht so schwerer Leiden kannst du nicht mehr auf den Füßen stehen und du wankst. Ach, in diesem feierlichen Augenblick entscheidet sich dein Los. Bei des Pilatus Worten herrscht tiefes Stillschweigen im Himmel, auf Erden und in der Unterwelt. Gleich danach ertönt wie mit einer Stimme das Geschrei aus allen Kehlen:

„Kreuzige, kreuzige ihn! Wir wollen seinen Tod!"

Jesus, mein Leben, ich sehe, wie du erbebst. Der Todesschrei steigt in dein Herz. O lass mich, ich bitte dich, zugleich mit dir sterben! Du, mein gequälter Jesus, sprichst von meinem Schmerz gerührt zu mir:

„Kind, neige dein Haupt zu meinem Herzen und nimm teil an meinen Leiden und Sühnewerken. Der Augenblick ist feierlich: Es handelt sich um die Entscheidung über meinen Tod oder den Tod des Menschengeschlechts. In diesem Augenblick ergießen sich zwei Ströme in mein Herz. In dem einen sind die Seelen, die meinen Tod wollen, um in mir das Leben zu finden. Indem ich für sie den Tod annehme, werden sie der ewigen Verdammnis entrissen, und die Pforten des Himmelreichs öffnen sich, sie aufzunehmen. In dem andern Strom sind jene, die meinen Tod aus Hass wollen und damit ihre Verdammnis besiegeln. Mein Herz ist zerrissen. Der Untergang einer jeden dieser Seelen geht mit unsagbar nahe. ,Die Schmerzen der Hölle umgeben mich' (Ps 17,6). Ach, mein Herz kann diesen bitteren Schmerzen nicht länger standhalten. Ich empfinde den Tod dieser Seelen bei jedem Schlag meines Herzens, bei jedem Atemzug und wiederhole immer wieder: ,Soll soviel Blut umsonst vergossen sein? Sollen die Leiden, die ich erdulde, für so viele vergebens sein?'[1]

O Kind, halte mich aufrecht, ich kann nicht mehr! Nimm teil an meiner Pein. Dein Leben sei eine ständige Opfergabe, um Seelen zu retten und meine Herz zerreißenden Qualen zu mildern."

Jesus, deine Leiden seien die meinigen, und deine Sühneakte mögen in mir ein Echo finden.[2]

Aber ich sehe, Pilatus ist außer Fassung, und es drängt ihn auszurufen:

„Wie, euren König soll ich kreuzigen? Ich finde keine Schuld an ihm."

Und die Juden schreien, dass die Luft erzittert:

„Wir haben keinen König als den Kaiser. Wenn du diesen freigibst, bist du kein Freund des Kaisers. Kreuzige, kreuzige ihn!"

 

Von Pilatus zum Tode verurteilt

Pilatus, der sich nicht mehr zu helfen weiß, lässt sich aus Furcht, seines Amtes entsetzt zu werden, ein Becken mit Wasser bringen und wäscht seine Hände, wobei er spricht:

„Ich bin unschuldig am Blute dieses Gerechten."

Und die Juden schreien abermals:

„Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!"

Da sie dich, mein Jesus, verurteilt wissen, brechen sie in Jubel aus, klatschen in die Hände und jauchzen vor Freude. Inzwischen sühnst du, mein Jesus, für jene, die, während sie hochstehen, aus Menschenfurcht und um ihre Ämter nicht zu verlieren, die heiligsten Gesetze mit Füßen treten, ohne sich um den Untergang ganzer Völker zu kümmern. Du sühnst für jene, welche die Gottlosen begünstigen und die Unschuldigen verurteilen. Auch sühnst du für jene, die nach der Schuld den göttlichen Zorn reizen, dass er sie strafe.

Aber während du sühnst, blutet dir das Herz, weil du im voraus siehst, dass das auserwählte Volk vom Fluch des Himmels getroffen wird. Die Juden haben es ja so gewollt mit freiem Willen und den Fluch mit deinem Blut besiegelt, das sie auf sich herabgerufen haben.

Jesus, mein Herz versagt. Gestatte, dass ich es in meinen Händen halte und deine Sühneakte zu den meinigen mache. Allein deine Liebe strebt nach Höherem. Unschuldig suchst du das Kreuz.  Mein Leben, ich werde dir folgen. Für eine Weile ruhe in meinen Armen. Danach gehen wir zusammen auf den Kalvariahügel. So bleibe bei mir und segne mich.

 

Erwägungen und praktische Übungen.

Jesus wird mit Dornen gekrönt, als Spottkönig behandelt, unerhörten Quälereien und Beschimpfungen unterworfen. Er aber sühnt in besonderer Weise für die Sünden des Stolzes.  Gehen wir den Gedanken des Hochmuts aus dem Wege? Schreiben wir Gott das Gute zu, das wir tun, halten wir uns für geringer als alle anderen? Ist unser Geist entäußert von sündhaften Gedanken, um der Gnade Raum zu gewähren? In vielen Fällen geben wir der Gnade kein Asylrecht, weil wir den Kopf von anderen Gedanken voll haben. Ist aber unser Geist nicht von Gott erfüllt, sind wir selbst daran schuld, wenn der Dämon uns belästigt, da wir ja selbst die Versuchung schüren. Ist hingegen unser Geist mit Gott erfüllt, dann findet der Teufel, wenn er sich uns nähert, keinen Anhaltspunkt, der ihm dazu dienen könnte, unseren Versuchungen die von ihm beabsichtigte Richtung zu geben. In Schanden zieht er ab. Denn heilige Gedanken haben eine solche Macht über ihn, dass, wenn er sich an uns heranschleicht, sie ihn wie mit Schwertstößen verwunden und in die Flucht schlagen.

Mit Unrecht beklagen wir uns also, wenn unser Geist belästigt und versucht wird vom Geist der Finsternis. Unsere geringe Wachsamkeit ist es, die ihn aufstachelt, uns anzufallen. Er späht die Regungen unsers Geistes aus, und wenn er sie im geringsten von heiligen Gedanken entblößt sieht, greift er uns an. Anstatt Jesus mit unseren heiligen Gedanken zu erquicken und ihm die Dornen aus dem Haupt zu ziehen, sind wir undankbar genug, sie ihm einzudrücken und ihn nur noch mehr die Stiche fühlen zu lassen. So wird die Frucht der Gnade vereitelt, und das Wirken der heiligen Einsprechungen kann in unserem Geist nicht seinen freien Lauf nehmen.

In vielen Fällen ist unsere Handlungsweise noch schlimmer. Während wir unter den Belästigungen der Versuchungen seufzen, geraten wir, anstatt sie wie zu einem Bündel zusammenzuraffen und Jesus zu bringen, damit sie im Feuerofen seiner Liebe verzehrt werden, in Verwirrung, betrüben uns und stellen Betrachtungen über sie an. So bleibt nicht nur unser armseliger Geist von den bösen Gedanken eingenommen, sondern unser ganzes Wesen wird geradezu von ihnen beherrscht. Da wäre ein Wunder notwendig, uns von solchen Vorstellungen freizumachen. Jesus betrachtet uns durch seine Dornenkrone, ruft uns zu und scheint einem jeden von uns sagen zu wollen:

„Mein Kind, du selbst bist schuld an deiner Niederlage, weil du dich nicht fest an mich halten willst. Wärst du sofort zu mir gekommen, dann hätte ich dir geholfen, die lästigen Versuchungen zu überwinden, die der Teufel in deinen Geist hineingetragen hat, und ich hätte auf deine ersehnte Rückkehr nicht so lange warten müssen. Ich habe Hilfe bei dir gesucht, mich von so quälenden Dornen zu befreien, habe jedoch umsonst gewartet, weil du dich mit dem Gedanken beschäftigt hast, die dir der Geist der Hölle vorgestellt hatte. Wie viele Versuchungen hättest du weniger gehabt, wenn du unverzüglich in meine Arme geeilt wärst. Alsdann hätte der Teufel von dir abgelassen." 

O Jesus, deine Dornen mögen meine Gedanken besiegeln in deinem Geist und so jede Art teuflischer Versuchungen verhindern.

Wenn Jesus sich in unserm Geist und Herzen fühlbar macht, entsprechen wir dann seinen Einsprechungen oder lassen wir sie außer acht?  Jesus wird als Spottkönig hingestellt. Haben denn wir vor heiligen Dingen Hochachtung? Bezeigen wir ihnen beim Gebrauch die gebührende Ehrfurcht, als ob wir Christus selbst angerührt hätten?

Mein dornengekrönter Heiland! Lass mich deine Dornen empfinden, damit ich aus dem Schmerz ihrer Stiche begreifen kann, was du leidest, und dich als König über mich selbst einsetze.

Jesus wird von der Terrasse des Gerichtshauses herab der Menge vorgestellt, aber von jenem Volk zum Tod verurteilt, das so sehr von ihm geliebt und mit Wohltaten überhäuft worden ist. Liebreichster Jesus! Uns das Leben zu geben, nimmst du den Tod an. Sind auch wir bereit, jedes Leid anzunehmen, damit Jesus nicht beleidigt werde und nicht leiden müsse? Die Menschheit Jesu hat unendlich gelitten. Da wir aber sein Leben auf Erden fortsetzen sollen, so müssen wir auch die Leiden seiner Menschheit gegen die unsrigen austauschen.

Nehmen wir Anteil an dem Schmerz, den Jesus litt, als er sah, dass so viele Seelen von seinem Herzen losgerissen würden? Machen wir seine Leiden zu den unsrigen, um ihm ein wenig zu vergelten, was er für uns gelitten hat?  Die Juden verlangen seine Kreuzigung, damit er sterbe wie ein ehrloser Verbrecher und sein Name ausgelöscht werde aus dem Andenken der Menschen. Bemühen wir uns, dass das Andenken Jesu lebendig sei auf Erden? Mit unseren Gedanken, mit unserem Beispiel, mit jedem Schritt und Tritt müssen wir der Welt ein göttliches Siegel aufdrücken, dass Jesus von allen erkannt werde und unser Wirken das Echo seines göttlichen Lebens sei, das von einem Ende der Welt bis zum andern erschalle. Sind wir bereit, unser Leben hinzugeben, damit der liebenswürdige Jesus entschädigt werde für alle ihm zugefügten Unbilden? Oder ahmen wir die Juden nach, jenes Volk, das so sehr von ihm begünstigt worden ist, und schreien wir wie sie: Er werde gekreuzigt!?

Mein verurteilter Jesus! Deine Verurteilung sei die meinige, und ich nehme sie an aus Liebe zu dir. Dir Trost zu bereiten, will ich mich beständig in dich versenken, dich in die Herzen aller Menschen tragen, dass alle dich erkennen, und dein Leben allen schenken.